Von 1985 bis 1993 war ich Betriebsdisponent am Bahnhof Goppenstein. Gewohnt habe ich im Wohnhaus 1 direkt beim Portal des alten Lötschbergtunnels.

Ein Extrazug mit Wagen des Orientexpress fährt aus dem Lötschbergtunnel. Das braune Haus links neben der  Re 4/4 II ist das Wohnhaus 1. Ebenfalls ersichtlich ist der gut gefüllte Lawinengraben hinter dem Tunnelportal.

Foto S. Niklaus, Frühling 1986

 

Angenehm war nicht nur der moderate Mietzins von CHF 260.-- für eine Dreizimmerwohnung, sondern auch der direkte Blick vom Schlafzimmerfenster auf das Geschehen am Bahnhof. Eine Re 10/10 der SBB fährt Richtung Lötschbertunnel vorbei. Auch in diese Richtung geht der Blick auf einen stattlichen Lawinenzug.

Foto S. Niklaus Frühling 1991

 

Angesichts der Nähe zum Tunnel ist die Idee aufgetaucht, man könnte diesen mal zu Fuss ablaufen. Am 5. September 1985 war es soweit: Hanspeter Bischoff, damals Disponent in Hohtenn, und ich haben den Lötschbergtunnel zu Fuss durchquert. An dieser Stelle wird es Zeit, die rote Schrift hervorzunehmen:

 

Bitte keinesfalls nachmachen, auch nicht bei einem anderen Tunnel!! Es ist verboten und lebensgefährlich, Bahnanlagen zu betreten!!

 

Wir haben bis in die Tunnelmitte Streckenwärter Trachsler auf seinem ordentlichen Kontrollgang begleitet.  Bahnmeister und Bahnhofvorstand waren über unser Vorhaben informiert und haben uns vorgängig die nötigen Instruktionen erteilt.

 

Oben das Portal aus der Nähe, bevor wir losgelaufen sind.

 

Diese und alle weiteren Fotos Hanspeter Bischoff, 5. September 1985

 

 

In Stumpengleis 11 neben dem Portal war der Te 2/3 31 abgestellt

 

Von dem Marsch durch den Tunnel gibt es angesichts der völligen Dunkelheit keine Fotos. Ein paar Erinnerungen sind mir geblieben:

  • Der Tunnel war damals noch nicht mit Wechselbetrieb ausgerüstet. Die Züge sind also normalerweise auf dem linken Gleis gefahren
  • Die Gleise wurden entsprechend der Fahrrichtung der Züge als "Brigergleis" und "Thunergleis" bezeichnet
  • Richtung Kandersteg sind wir auf dem "Brigergleis" gelaufen, also auf dem rechten Gleis. So hat man stets die entgegenkommenden Züge im Blick.
  • Auf beiden Seiten gibt es Nischen, in die man sich bei einem nähernden Zug begibt. Und zwar auch, wenn ein Zug von hinten kommt, in unserem Fall also auf dem Thunergleis. An die Verteilung der Nischen kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich hatte im Kopf, dass beidseitig alle 50m eine Nische vorhanden ist. In der Literatur ist allerdings von alle 100 m die Rede.  
  • In beiden Fahrrichtungen gab es 4 Blocksignale, Richtung Norden (Thunergleis) N1 bis N4, Richtung Süden (Brigergleis) S 1 bis S4. Die ersten beiden Signale befanden sich auf dem Abschnitt bis zur Tunnelmitte, N3 bzw. S3 waren die Signale vor der Tunnelstation. Diese konnten also auch Fahrbegriff 3 für Fahrten über ablenkende Weichen anzeigen. Signale N4 bzw. S4 haben dann noch den Abschnitt nach der Tunnelmitte unterteilt
  • Es gab damals je einen Bahmeisterbezirk BLS Nordrampe in Kandersteg und  BLS Südrampe in Goppenstein. Streckenwärter Trachsler, den wir begleiten durften, ist nur in seinem Bezirk gelaufen. Er hat also seinen Gang in Goppenstein angetreten. In der Tunnelmitte gab es in einer grösseren Nische einen einfachen Dienstraum mit Stuhl und Tisch, in dem er Mittagspause gemacht hat. Anschliessend ist er auf dem anderen Gleis zurück nach Goppenstein gelaufen.  Die Nordseite des Tunnels wurde jeweils zu einem anderen Zeitpunkt von einem Wärter von Kandersteg aus kontrolliert
  • Diese Kontrollgänge wurden damals einmal pro Monat durchgeführt. Was der Wärter alles genau kontrolliert hat, weiss ich nicht mehr genau. Sicher das Gleis, eventuell auch die Fahrleitung und die Telefone.
  • Die Tunnelwanderung habe ich als recht gefährlich in Erinnerung. Die Züge verkehren mit V/max 125 km/h. Gerade in den Kurven sieht man die Züge sehr spät, so dass nur wenig Zeit zur Flucht in eine Nische bleibt. Der alte Lötschbergtunnel hat bekanntlich 3 Kurven, von denen die mittlere über einen Kilometer lang ist
  • Eine weitere Gefahr hätte bestanden, wenn z.B. wegen einer Störung Einspurbetrieb eingeführt würde. Dann wären die Züge auf dem rechten Gleis gefahren und hätten sich im Rücken des Streckenwärter genähert. Auf Strecken mit Wechselbetrieb verlangt der Streckenwärter jeweils vor Marschantritt beim Stellwerk ein "Verbot Wechselbetrieb"

In einem Raum in Tunnelmitte befindet sich das Stellwerk Domino 67 der Tunnelstation, an dem wir ein bisschen geübt haben. Die Fotos sind gestellt, die Station wird von Kandersteg aus ferngesteuert und wir haben die Bedienung nicht übernommen.

 

Relaisraum der Tunnelstation

 

Von der Tunnelmitte bis Kandersteg sind wir alleine weitergelaufen.

 

Bekanntlich gab es beim Bau des Lötchbergtunnels einen Wassereinbruch und der ursprüngliche Richtstollen wurde mit einer 10m dicken Mauer verschlossen. Diese Mauer kann noch erreicht werden: Ca. 1,3 km vom Nordportal entfernt zweigt neben einer Nische ein Zugang zum ursprünglichen Stollen ab. Nach ein paar Meter erreicht man die Mauer, in die auch Wasserrohre eingelassen sind. Das war der unheimlichste Moment unserer Wanderung: Der Stollen ist sehr niedrig und dunstig. Auch ist die Luft noch sticker als im Rest des Tunnels. Und sehr bedrückend ist natürlich der Gedanke, dass hinter der Mauer die Überreste der  verschütteten Arbeiter liegen. Bis auf einen konnten die 25 Opfer der Katastrophe vom Jahr 1908 nie geborgen werden.

 

Die ganze Wanderung Goppenstein - Kandersteg dauerte 7 Stunden. Der Tunnel ist 14,612 km lang, die Stationsdistanz beträgt knapp 17 km. Über den Schotter ist an ein normales Wandertempo nicht zu denken. Auch muss für die zahlreichen Zugfahrten immer wieder in die Nischen ausgewichen werden.

 

In der BLS - Hauszeitschrift vom Juni 1975 wurde diese Geschichte veröffentlicht. Eine Foto zeigt die Mauer, die wir auch besucht haben

 

Sammlung S. Niklaus

 

In einer anderen Hauszeitschrift BLS ist diese Skizze des aufgegebenen Stollen veröffentlicht worden. Lage und Zugang sind gut ersichtlich.

Der Stollen wurde damals für eine Brandschutzübung verwendet. Brandherd, Hydroschild etc. beziehen sich auf diese Übung.

 

BLS Hauszeitschrift 1/1979 aus Sammlung S. Niklaus